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DEUTSCHE MUSIK DER GEGENWART VON PAUL BEKKER 7 page

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Zum zweitenmal wurde die sinfonische Form Gefäß der gestaltenden Idee, jetzt nicht wie bei Beethoven vorwiegend auf die abstrakt instrumentale Sprache beschränkt, sondern stark durchsetzt, zum Teil beherrscht vom vokalen Ausdruck. Die Sphäre des Geschehens war dem sinnlich faßbaren Erlebnis nähergerückt, die Vorstellungswelt dieser Kunst lag mehr im Bereich des irdisch Erkennbaren, Gleichnishaften. Dagegen war sie ferngerückt dem Naturalismus und Illusionismus der Romantik, und darin lag der tiefe Wesensunterschied sowohl gegenüber der gleichzeitigen Programmusik als auch der Oper. Die Oper war ihrem Ursprung nach dem unbefangensten, kindlich buntesten Sinnenspiel zugewandt. Im Gegensatz zu den auf andächtig religiöse Vereinigung gerichteten musikeigenen Formen war sie der Verherrlichung der Freude gewidmet, das Fest des Dionysos und des Eros. Künstliches Erzeugnis bewußten Luxustriebes, als Formerscheinung abhängig von den Bedingtheiten verschiedenartigster, organisch unverbundener Wirkungsmittel, unterworfen dem gesellschaftlichen Einfluß der Verbraucher, war sie die unrealste, durch willkürliche Mischung der Gestaltungselemente zwitterhafteste musikalische Kunstgattung. Sie hat in den verschiedenen Ländern verschiedenartige Ausprägung erfahren, hat in Italien eine Entwicklung nach der musikhaft sinnlichen, in Frankreich nach der schauspielhaft bühnenmäßigen, in Deutschland nach der gedanklich dramatischen Seite hin genommen. Aber sie ist stets Erzeugnis und Spiegelung des Luxuswillens, der Laune, der phantastischen Willkür geblieben. Das bedeutet keineswegs Verkennung oder Unterschätzung ihres Kunstwertes. Man kann die Oper gewiß nicht streichen aus der Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte, sie ist die bezeichnendste Auswirkung des Spieltriebes. Aber nur als solche kann sie erfaßt werden, im Gegensatz zum gesprochenen Drama, dessen äußere Form sie spielend nachahmt, wie sie jede andere der an ihr beteiligten Künste: Gesang, Instrumentalmusik, szenische und figürliche Darstellung gewissermaßen in eine absolut unlogische Sphäre überträgt. Je reiner sie diesen Charakter des phantastisch parodistischen Spieles wahrt, um so vollkommener wird sie als Kunstwerk wirken. Der unvergängliche Zauber der Oper Mozarts ruht in der tiefen Übereinstimmung, aus der hier Sinnenfreude, Spieltrieb, jeglicher Realität abgewandte Phantastik zur tiefsten Erfassung menschlicher Lebenstriebe und Willenskräfte gelangen. Die irrationale Form wird zur Spiegelung eines irrationalen Seins außerhalb aller Bedingtheiten der Wirklichkeit. Nicht nur die stofflichen Erscheinungen der Oper Mozarts: Handlung, Charaktere, äußere Aneinanderreihung der Begebenheiten sind dem illusionistisch gerichteten Verstande unfaßbar. Die musikalische Formung vor allem: das Ausströmen des Gefühles durch die monodramatische Gesangsarie, das gleichzeitige Ineinanderweben der Stimmen im Ensemble, die vielgliedrigen, lediglich aus Kontrast- und Steigerungswirkung des musikalischen Ausdruckes entwickelten Finalebauten — dies alles zusammen ergab eine Kunst, der gegenüber jede rationalistische Forderung zum Spott werden mußte. Hier war denkbar höchste Freiheit des gestaltenden Geistes, restlose Überwindung der stofflichen Materie, reine Anschauung des Spieles freier Phantasiekräfte, eine vollkommene idealistische Welt als verklärtes Symbol der realen. So konnten hier die großen bewegenden Ideen der damaligen Menschheit: die Probleme der Befreiung der Persönlichkeit dargestellt werden an menschlichen Elementartypen der Figaro-, Don-Juan-, Cosi fan tutte-Sphäre. So konnte in der Zauberflöte im Rahmen eines Kinderspieles das Ziel aller humanitären Kultur: die Menschheitsvereinigung durch Freundschaft, Liebe und Weisheit zu herrlichster Erfüllung in der Kunst gebracht werden.



Die nachfolgende Zeit hat niemals die einzigartige Musikernatur Mozarts verkannt. Niemand hat für den Genius Mozart tieferes Gefühl und Verehrung gehabt als Wagner. Aber die Form der Mozartschen Oper, diese freieste Gestaltung des Unwirklichen, Unwahrscheinlichen, erschien ihm unvollkommen, mußte ihm unvollkommen erscheinen — gerade der Eigenschaften wegen, die über die Würdigung von Mozarts bloßem Musikertum hinaus die kulturelle Größe seiner Künstlerschaft bestimmen. Die Romantik glaubt sich über die Urbestimmung der Oper, über die artbestimmenden Grundlagen der Gattung hinwegsetzen zu können. Sie versuchte der Oper das zu nehmen, worin ihr Wesen wurzelte: den Charakter des Spieles. Sie versuchte, dieser auf heiterster Sinnenspannung, auf lebhaftestem Reiz der Bilder, auf schmeichelnder Phantastik der Gefühlserregung beruhenden Kunstform das zu geben, was ihr niemals innerhalb ihres unmittelbaren Wirkungsbezirkes eigen gewesen war: die religiöse Weihe des großen Dramas. Das Wesen der Oper als dramatischer Erscheinung beruht auf bewußter Unwahrscheinlichkeit, auf parodistischer Einstellung gegenüber allen Realitäten. Selbst die Reformen Glucks, zu Unrecht als Vorarbeiten für Wagner angesehen, ließen den Grundcharakter der Oper als Gattung unberührt. Sie bezogen sich lediglich auf die stärkere Hervorhebung der lyrisch musikalischen Wirkungen gegenüber gesanglich virtuosen Effekten. Ob ernste oder heitere, ob tragische oder komische Oper, dies war gleichgültig für die Auffassung des Typs, aus dem die Oper Mozarts als ideale Zusammenfassung aller Kräfte hervorwuchs. Dieses lyrisch phantastische Erosspiel war in allen Bedingtheiten seines Wesens Erzeugnis der Renaissance, weitergebildet von Menschen, deren sinnlich empfindsame und erfindungsreiche Natur hier ein neues Feld für ihren sensualistischen Spieltrieb fand. Der Versuch, von dieser Spielgattung aus den Weg zu bahnen zum kultischen Drama der Antike, bedeutete nicht nur eine neue Mißdeutung der Antike, entstellender noch als der klassisch geglättete Antikenbegriff des Idealismus. Er bedeutete die unwahrhaftige Theatralisierung kultischer Dinge, ihre Herabsetzung zu Requisiten opernhafter Wirkungen und, damit verbunden, die falsche Überhöhung einer in sich organisch geschlossenen Kunstgattung durch das steigernde Pathos des dramatischen Affektes.

Die romantische Form des musikalischen Dramas, wie es sich in der Theorie darstellt, ist im Hinblick auf das Wesen der Gattung, das vollendet in der Oper Mozarts erscheint, eine Abirrung der Oper auf Gebiete, die außerhalb des Charakters der Gattung liegen, und auf denen sie nie Wurzel fassen konnte. Soweit Werke solcher Art in die Breite wirken wie bei Wagner, beruht die Wirkung in Wahrheit doch auf dem Spielcharakter der Oper. Er ist auch im musikalischen Drama nur scheinbar überwunden und lebt da weiter, wo es die lebendige Wirkung zeugt. Aber er lebt unter falschem Namen und falscher Einschätzung seines Wesens. In dieser Vortäuschung unwahrer Werte liegt die Gefahr des Erbes der romantischen Oper für die Gegenwart. Es gilt zunächst, die Unmöglichkeit der Oper als Form bewußt kultischer Dramatik klar zu erkennen. Es gilt gleichzeitig, die falsche Geringschätzung des Spieltriebes als eines gleichsam im höheren Sinne nicht vollwertigen Schaffensimpulses abzutun, zu erkennen, daß dieser Spieltrieb, sofern er vermeidet, sich aus falschem Ehrgeiz dramatisch zu maskieren, aus sich selbst heraus zur Erreichung wahrhaftigerer Ziele befähigt ist, als das höchstgeschraubte dramatische Pathos sie zugänglich macht. Es gilt, formelhaft gesprochen, in der Oper Mozarts nicht nur die geniale Musiker-, sondern gerade die geniale Künstlernatur zu erkennen. Nicht nur in der Oper Mozarts, sondern in der Oper überhaupt die Idealgattung des Phantasiespieles, das, frei von allen dogmatisch ethisierenden Nebenabsichten, aus lebendigstem Widerschein buntester Lebensfarben und Sinnesreize den ins Märchenhafte überspiegelten Abglanz des Realen, Bewußten, Gewollten gibt.

Es ist lehrreich, zu beobachten, wie sich andere Völker mit diesem Problem der Oper abgefunden haben. Der romantischen Rauschsuggestion, der dramatisch zugespitzten Illusionsoper zunächst ebenso unterworfen wie die Deutschen, haben Italiener und Franzosen die Gefahr einer bewußten Überbetonung der dramatischen Zweckhaftigkeit der Oper zu vermeiden gewußt. Bei beiden Nationen ist in der äußeren Anlage, namentlich des Textes, ein auffallend realistisch naturalistischer Zug bemerkbar. Er beeinflußt auch die Art der musikalischen Gefühlseinstellung und normalen Faktur. Bizets "Carmen" ist das Muster der psychologischen Oper, Verdis derbe Sinnlichkeit saugt sich fest an der Unmittelbarkeit elementar erfaßter Bühnenvorgänge und überträgt diese Emotionen mit naiver Drastik in seine Musik. Bei beiden größten Opernkomponisten ihrer Nationen aber bleibt die dramatische Einkleidung stets Mittel zum Zwecke des Musizierens. Das Drama gewinnt weder in der Theorie noch in der Praxis die Vorherrschaft. Der Musiktrieb als der eigentliche und wahrhafte Spieltrieb dominiert, und selbst den Nachfolgern Verdis ist die veristische Fassung des Dramas nur ein Mittel, ihre kurzatmige Musikbegabung schnell und durchgreifend zur Geltung zu bringen. Bei Gounod, Massenet, Saint Saëns ist der normale Sinn von vornherein in viel zu hohem Maße konventionell beeinflußt, um die Wahl zwischen Oper und musikalischem Drama je ernsthaft zweifelhaft zu machen, und auch der ins bewußt Ästhetenhafte abschweifenden jungfranzösischen Schule ist trotz der literarischen Geschmacksverfeinerung die Oper stets die primär musikalische Kunstform.

Nur in Deutschland hat sich unter der gewaltigen Nachwirkung von Wagners Theorien eine seltsame moralästhetische Auffassung vom Wesen des musikalischen Dramas herangebildet. Auf ihre tieferliegenden, innerorganischen Ursachen betrachtet, ist sie das Zeichen nachlassenden Produktionsvermögens. Als Lehre aber hat sie schweren Schaden gestiftet durch Verkennung und Herabsetzung kunsteigener Grundwerte der Oper zugunsten eingebildeter religiös ethischer Qualitäten des musikalischen Dramas. Das eigentlich Belastende und Schädigende dieser Geistes- und Urteilswendung lag nicht in der Tatsache, daß eine große Anzahl schwacher oder mittlerer Talente sich getrieben fühlte, Musikdramen zu schreiben. Es lag auch nicht nur in der ästhetischen Begriffsverwirrung, die den Blick für wesentliche Vorzüge der Kunstgattung und damit für die Schöpfungen ganzer Epochen trübte, dafür künstlerischen Belanglosigkeiten hohe sittliche Wertung angedeihen ließ. Dies wären zunächst Schädigungen gewesen, die nur die Kunst als solche betrafen. Der verhängnisvollste, in die allgemeine Volkskultur übergreifende Nachteil war, daß hier die auf Täuschung, Spiel, Schein, im sittlichen Sinne auf bewußter Unwahrhaftigkeit beruhende Welt des Theaters als wahr, echt, lebendig, als Trägerin und Künderin der höchsten ethischen Norm ausgegeben wurde. Das Gefühlsleben der Menschen orientierte sich innerlich an diesen Erscheinungen einer vorgespiegelten Lebenswahrheit. Es mußte unecht, unwahrhaftig werden, weil es sich zum Sklaven seines eigenen Phantasieerzeugnisses machte und von diesem Gesetze empfing, statt, wie es der ursprüngliche Spielcharakter der Gattung forderte, sie ihm zu erteilen. Das theatralisch Komödiantische, das so vielfach in der deutschen Öffentlichkeit der letzten fünfzig Jahre sich bemerkbar macht, die Neigung zu falschem Pathos und schlechter Rhetorik sind nicht zum mindesten Nachwirkungen einer Lebensauffassung, die ihre Gesetze aus der Oper empfängt.

Wir stehen heut der Romantik fern genug, um die Größe ihrer künstlerischen Leistungen unbefangen würdigen zu können. Was uns von ihr trennt und zur Kritik zwingt, ist nicht diese oder jene Einzelheit im fachlich entwicklungsmäßigen Sinne, ist auch nicht Widerspruch gegen individuelle Begabungen. Es ist grundsätzlich die durchaus entgegengesetzte Auffassung vom ethischen Charakter des Kunstwerkes. Die Romantik übertrug ihn in den Stoff, in die Form, in das künstlerische Sujet selbst. Mit allen Mitteln genialer Beharrlichkeit und Tatkraft materialisierte sie ihn, unterwarf ihn dadurch allen Hemmungen und Täuschungen der Materie, erhob ihn selbst zum bewußten Träger der künstlerischen Idee. In diesem Gegensatz von absichtsvoller Ethik des Stofflichen und zwanglos unbewußtem Ethos des idealistischen Spieles wurzelt der Kontrast Wagner-Mozart, wurzelt der Widerspruch der heutigen Generation gegen die tendenziöse Kunstauffassung und -lehre Wagners, wurzelt die Abwendung vom kultischen Musikdrama, die erneute Neigung zum Erosspiel der Oper.

Es gibt gegenwärtig drei deutsche Opernkomponisten, in deren Schaffen der Widerstreit der Meinungen klar zutage tritt: Hans Pfitzner, Richard Strauß, Franz Schreker. Pfitzner ist der bedingungslose Anhänger von Wagners Lehre, deren spekulative Züge er in seinen drei Musikdramen "Der arme Heinrich", "Die Rose vom Liebesgarten" und "Palestrina" in fanatischer Einseitigkeit zu den äußersten Konsequenzen geführt hat. Die Vorherrschaft der stofflichen Ethik, die bei dem großen Bühnenpraktiker Wagner ungeachtet aller Theorien doch stets im Rahmen des bühnensinnlich Wirksamen bleibt, greift bei Pfitzner schließlich auch das organische Leben des Dramas an, das aus vorsätzlicher Askese immer theaterfremder wirkt. Es ist bezeichnend, daß in "Palestrina" keine einzige Frauenfigur erscheint. Das Mönchtum dieser Kunst geht bis zur Verbannung des Eros von der Bühne. Unbemerkt bleibt der grausame Widerspruch, daß eine scheinbar alle profanen Bedingtheiten überwindende Kunst sich der Mittel einer Gattung bedient, deren Wesen der wechselvollsten Sinnlichkeit der Form unlösbar verhaftet ist. Richard Strauß ist sich der Theaternatur der Oper wohl bewußt. Sein Schaffen ist auf stilkünstlerischen Ausgleich von Drama und Oper gerichtet unter allmählich immer stärker betonter Annäherung an den älteren Formtyp. Soweit ein Problem dieser Art die Lösung auf experimentellem Wege zuließ, ist sie ihm in mehreren Fällen, nie einheitlich, wohl aber für beträchtliche Teile innerhalb eines Werkes, geglückt. Das lebhafte, temperamentbeschwingte Musiziertalent Straußens, seine hinreißende, aus starkem Augenblicksimpuls schöpfende Überredungsgabe, die unmittelbare Gegenständlichkeit seiner Tonsprache, dies alles, verbunden mit außergewöhnlicher, treffsicherer Formgewandtheit, macht seine großen Erfolge erklärlich und berechtigt. In einer Zeit allgemeiner Geschmacksunsicherheit und Talentarmut war er der einzige, der sich mit unbekümmerter Frische und reflexionsloser Begabungskraft dem musikalischen Naturalismus zuwandte und als echtes Weltkind dem Geist der Zeit stets zu geben wußte, was dieser bedurfte. Solche in allem Technischen und Artistischen meisterliche Anpassungsgabe konnte allerdings immer nur zu Augenblickslösungen, zu Gegenwartserfolgen gelangen. Sie konnte in ihrer allerseits verbindlichen Art niemals zu einer im Wesenhaften eigenen und neuen Erfassung des Opernproblems gelangen. Die stilistischen Verkleidungs- und Verwandlungskünste auch des stärksten Formtalentes waren günstigstenfalls nur geeignet, zu erreichen, daß die romantische Auffassung der Oper als des kultischen Dramas keine Gefolgschaft mehr fand, keine innere Werbekraft mehr übte, ohne daß es gelungen wäre, ihr einen selbständigen neuen Operntyp entgegenzustellen.

Erst mit dem Auftreten Franz Schrekers hat sich hier eine Wandlung vollzogen. Das Bemerkenswerte der Erscheinung Schrekers liegt nicht in Einzelzügen seiner Musikerbegabung, so sicher und stark sich diese aus konventionellen Anfängen zur Erringung individueller Eigenwerte durchzusetzen vermochte. Es liegt auch keineswegs in auffallenden Besonderheiten stilistischer Art, an denen Bezugnahme auf die jungromanische Kunst namentlich in Melodik und Harmonik auffällt, gesteigert durch üppige koloristische Phantasie und großlinige architektonische Gestaltungsgabe. Aber mit all diesen Eigenschaften wäre Schreker nur einer unter mehreren. Seine Ausnahmestellung ergibt sich aus anderem. Zum erstenmal seit Jahrzehnten ist hier eine Reihe von Werken geschaffen, die jenseits aller Tendenzmacherei und spekulativen Theorie, jenseits auch jeglicher Stilkünstelei und jeglichen Formexperimentes steht. Erwachsen ist sie aus gänzlich vorbehaltloser, naiver Erfassung der Oper als eines Spielstückes für eine ungebunden schweifende Phantasie, der als Richtlinie lediglich ein kühner, naturhaft elementarer Theaterinstinkt dient. Schreker sieht die Bühne nicht als Kanzel, auch nicht als Ort geistreicher Unterhaltung. Er sieht sie mit der Unbefangenheit des Kindes, dem sich hier eine Welt zauberhaftester Unwahrscheinlichkeiten, unbegrenzter Möglichkeiten des Unmöglichen öffnet, die nur von Künstlers Gnaden ihr Sein empfangen und um so stärker reizen, je lebensferner sie sind. Schreker sieht die Opernbühne wieder mit dem Auge des irrational empfindenden Phantasiemenschen.

Aus dieser Grundeinstellung ergibt sich der Unterschied nicht nur gegenüber der doktrinären Ideenoper Pfitzners oder der intellektuell bedingten Geschmackskunst Straußens. Auch andere zeitgenössische Kunst, wie die Eugen d'Alberts oder neuerdings die Opernmusik des jungen Erich Wolfgang Korngold steht im Gegensatz zur Theorie des Wagnerschen Dramas und zielt auf den Theatereffekt. Aber hier ist dieser mit bewußter Methodik als Wirkungsfaktor herangezogen. Es werden wieder periodisierte Melodien und geschlossene Formen geschrieben, weil das Prinzip des Leitmotives und des deklamatorischen Stiles verbraucht erscheint. Schreker ist gegenüber diesen auf das Praktische im Sinne der Lebensklugheit und des Erfolges zielenden Begabungen eine naturwüchsige Kraft. Seine Beziehung zur Bühne ruht nicht auf irgendwelchen Erwägungen der Zweckmäßigkeit, sie ist elementaren Ursprunges. Seine vier Opern "Der ferne Klang", "Das Spielwerk", "Die Gezeichneten", "Der Schatzgräber" sind Erfolge nicht nur im Sinne des Kassenberichtes einer Spielzeit, sondern der geistigen Bewegung. Sie geben der Musik auf der Bühne wieder ihr ursprüngliches, durch keinerlei Dienstbarkeit gegenüber dramatischen Absichten behindertes Recht des freien Phantasiespieles. Sie gewinnen ihr damit das im Laufe des 19. Jahrhunderts verlorene Heimatgebiet zurück und führen so die Ausdrucksmittel der Oper wieder ihrer natürlichen Bestimmung zu. Es ist denkbar und nicht unbegreiflich, daß manche Menschen einer vorwiegend auf kritisch intellektuelle Bildung erzogenen Generation solche Kunst als für ihre Begriffe von Kultur nicht ausreichend ablehnen. Damit wäre sachlich nichts bewiesen, nur die Zuverlässigkeit dieses Kulturbegriffes in Frage gestellt. Vom Standpunkt einer abstinenten Geschmacksbildung aus wird die Oper wegen der unorganischen Vielheit ihrer Mittel stets ein nicht ganz vollwertiges Kunstgebilde sein. Einheitlichkeit gewinnen kann sie nur durch den Musiker, der diese Buntheit der Mittel als natürliche Quellen seiner Phantasie empfindet und fruchtbar macht, nicht aber das Ganze durch

Prinzipien und Theorien regelt oder stilisiert. Solcherart ist Schrekers Musik. Als dramatische Gebilde bedeuten seine Opern das Gegenteil dessen, was etwa dem gesprochenen Drama notwendig und wesenseigentümlich ist. Der Musik aber öffnen sie den Bezirk, auf dem sie sich als Element der Bühnenwirkung entwickeln kann, ohne von ihrem ureigenen Wesen etwas aufzugeben, ohne sich selbst zugunsten eines anderen Zweckes opfern oder begrenzen zu müssen.

Dieses ureigene Wesen der Musik ist das Beziehungslose, das verstandesmäßig Unfaßbare, nicht zu Greifende. Will man das Verhältnis der Gegenwart zur unmittelbaren Vergangenheit, zum 19. Jahrhundert kurz kennzeichnen, so kann man es nennen den Kampf gegen den Rationalismus der Romantik. Der Rationalismus war bedingt durch das Illusionsbedürfnis der Romantik und dieses wiederum durch ihre Resignation gegenüber dem Leben, aus der die Auffassung der Kunst als des Gegensatzes zum Leben, als des großen Täuschungsmittels, als des Lebenssurrogates erwuchs. Solche Auffassung mußte notwendig in der Theorie zur Kunstideologie, in der Praxis zur Wirklichkeits-Imitation führen. Das Unbeziehbare des klanglichen Erlebnisses wurde in allerlei Beziehungen gesetzt: die Oper mußte predigen, philosophieren, moralisieren, zum mindesten psychologischen Anschauungsunterricht geben. Die Sinfonie wurde der freien Poesie gewidmet, sie stellte dar, wobei es im Wollen und Ergebnis gleichgültig war, ob das Dargestellte ein direkt bezeichneter dichterischer Vorwurf war oder eine bewußt erfaßte formalistische Idee. Wie es aber der Oper und der Sinfonie erging, so auch den intimeren Gestaltungsformen der Vokal- und Instrumentalmusik: dem Lied, dem Chorgesang, der Solo- und Kammermusik verschiedenster Art. Das Lied, durch Schubert aus zopfiger Beengtheit zur freiesten Spiegelung individuell erfaßten seelischen Gemütsgeschehens erhoben, wurde durch Schumann, Jensen, Franz zur Stimmungsschilderung abgeschwächt. Bei Brahms erscheint es unter Neigung zu volkstümlich vereinfachender Formung, bei Hugo Wolf und seinen neudeutschen Nachkommen wird es zur psychologischen Kleinstudie — ohne daß Komponisten und Hörern die damit verbundene Entseelung des Lyrischen zum Bewußtsein gekommen wäre. Das Vernunftgemäße, auch in künstlerischer Fassung stets irgendwie dem rein logischen Begreifen Zugängliche war unausgesprochene Voraussetzung für die Anerkennung des Kunstwerkes. Dieses selbst blieb nur Dokument des Talentes, etwas durch Musik auszudrücken, was dem Inhalt nach ein Andersbegabter ebenso oder ähnlich auf anderem Wege gesagt hätte. So zerfloß hier, wie in der Sinfonie und der Oper, das Musikeigene. Das Interesse wurde fachlich begrenzt, vorwiegend auf das Wie der Darstellung hingelenkt. Die Kammermusik der Romantik einschließlich ihres gehaltvollsten Teiles: der Brahmsschen Kammermusik bestätigt dies. Formalistischer Bau, Faktur des musikalischen Satzes, klanglich koloristische Fassung, Art und Entwicklung der Gefühlsdarstellung sind gegeben durch die klassischen Vorbilder, das äußerlich Strukturelle vorwiegend durch Beethoven, das lyrisch Empfindungsmäßige mehr durch Schubert. Dieses Erbe wird nun in kleine Individualitätsgebiete aufgeteilt. Die gegebenen Grundmaße ästhetischer, musikalischer Art bedeuten gewissermaßen ein festes, geistiges Wirtschaftsgut, das nun aus dem Bereich des Urschöpferischen, wo jene großen Geister es gefunden, in die kleine, irdisch bewegte Welt als fertige Tatsache übernommen und verarbeitet wird.

Entwicklungsmäßig gesehen ist solcher Verlauf natürlich und richtig, sein Wert und seine Bedeutung liegt in der allmählichen Zugänglichmachung und Durchdringung der Ideen primär schaffender Künstler. Wenn wir etwa die gesamte Kammermusik nach Beethoven bis zur folgenden Jahrhundertwende auffassen als Mittel, durch variierende Einzelausführung die gewaltige Masse der Hinterlassenschaft Beethovens zunächst stofflich zu zerlegen und zu konsumieren, um dadurch den Zugang zu ihrer höheren Geistessphäre allmählich zu gewinnen, so wäre mit solcher Auffassung etwa die geschichtliche Mission der romantischen Kammermusik bezeichnet. Damit ist aber zugleich gesagt, daß ihr selbst die urzeugende Kraft abgeht, ja eigentlich mit Bewußtsein außerhalb ihres künstlerischen Wollens gehalten wird, und daß sie, unter Vermeidung eigener Stellungnahme und Auseinandersetzung mit den Grundproblemen musikalisch schöpferischer Gestaltung, den gegebenen Darstellungsapparat materialisierte, ihn als Schema im technischen Sinne behandelte und ausbaute. Auf diese Art konnte bei ausreichendem Einfühlungs- und Anpassungstalent noch manches an sich recht beachtliche Musikstück entstehen. Die Gebiete, die Beethoven und Schubert in ihrem Ideenflug abgesteckt hatten, boten Raum genug für Sondersiedlungen. Aber das eigentlich Wertschaffende: die Kraft und der elementare Zwang, aus dem heraus die idealistisch klassische Kunst überhaupt erst die Regel ihrer Gestaltungsart gefunden hatte, mußte bei den Nachfolgenden notwendigerweise fehlen. Die Gesetzlichkeit einer bestimmten Ausdruckstechnik, der der schöpferische Gedanke noch vor seiner Geburt untergeordnet war, die Einspannung des Gefühlsablaufes in feste Normen unterstellt auch auf diesem Gebiet Gefühl und Phantasie den Forderungen des Verstandes und des erklärungfordernden Bewußtseins. Bezeichnend dafür ist Pfitzners Schaffenstheorie. Nach ihr zerfällt die Entstehung des Musikstückes in die Empfängnis des thematischen Einfalles und in dessen handwerklich formale Verarbeitung. Solche Theorie ist nur möglich bei Auffassung der Form als eines gegebenen Schemas, bei Verkennung des organischen Eigenlebens der Form aus dem Zwang selbständigen Gestaltungstriebes, bei freiwilliger Beschränkung der Schaffenstätigkeit auf individuelle Variierung als unveränderlich genommener Typen. Das Primäre der musikalischen Konzeption wird auf den melodisch thematischen Brocken des Einfalles beschränkt, der dann das Objekt rationalistischer "Durchführung" bildet — eine Auffassung des Schaffensvorganges, die nicht nur Erzeugnis spekulativer Phantasie ist, sondern wahrhaftige Charakteristik einer bis in die Gegenwart hinein üblichen und anerkannten Praxis.

Wie nun in der großen sinfonischen Form ein zeiteigenes religiöses Gemeinschaftsgefühl als neue Grundlage gewonnen wurde, wie in der Oper an Stelle bewußter ethisch dramatischer Tendenz der irrationale Spieltrieb wieder hervordrängte, so hat dieser Zug zum Außervernunftmäßigen, zum ursprünglich Musikhaften der Musik, zur reinen Gefühlskundgebung auch die Elemente der Tonsprache ergriffen, aus denen sich Vokal- und Kammermusik formen. Er hat hier, auf dem geistigsten, intimsten Ausdrucksgebiet die radikalste Umwälzung hervorgerufen, zeigt am schärfsten oppositionelle Haltung gegenüber der unmittelbaren Vergangenheit, ist in den Ergebnissen einstweilen erheblich problematischer als in der Sinfonie und Oper. Er läßt aber gleichzeitig die entscheidenden Grundfragen der künstlerischen Wesensrichtung in klarster Eindeutigkeit hervortreten und gibt damit eigentlich die letzte Auskunft über die Gegensätzlichkeit der Anschauungen, den Wechsel der Zielsetzung. Sinfonie und Oper sind in stärkerem Maße stoffgebunden. Wirken auch in ihnen die gleichen Probleme, so sind sie doch von der begrifflichen Seite her leichter zu fassen. In der Kammermusik fallen alle Bindungen nach außen fort. Es bleibt nur die Auseinandersetzung mit dem zu innerst Wesenhaften der Musik, wie es hier in Klang, Stil und Form zutage tritt.

In diesen eigentlichen Elementen der Musik aber ist mehr und anderes lebendig, als die Fachästhetik gemeinhin gelten läßt. In ihnen wirkt und aus ihnen spricht die geistige Grundkraft der Zeit überhaupt, der sie angehören, und aus deren innerstem Gefühlstrieb sie ihre Gesetze empfangen.

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Wenn wir die in den beiden letztvergangenen Jahrhunderten zurückgelegten Wege der musikalischen Gestaltungsart überblicken, so zeigen sich zwei große, deutlich getrennte Entwicklungsgebiete: das des polyphonen und das des homophonen Ausdruckes. Die Gegensätze sind dem Prinzip nach nicht neu, sie waren schon im Mittelalter vorhanden, wenn auch im einzelnen anders geformt. Allgemein gesprochen, ohne damit bestimmte historische Umgrenzungen festlegen zu wollen, kann man sagen, daß Zeiten mit vorwiegend religiös gerichtetem Geistesleben in der Musik der Polyphonie, solche mit verweltlichter Interessenrichtung der Homophonie zuneigen werden. Die letzte große polyphone Kunst der Neuzeit war die Musik Bachs. Die Polyphonie — Vielstimmigkeit — ist eine Kunst der linear bewegten Fläche. Das artistische Problem liegt in der Vereinigung von organischer Selbständigkeit der Einzelstimme mit strenger Gebundenheit des Ganzen. An dieser zusammenfassenden Kraft, an dieser Fähigkeit, die reichste Mannigfaltigkeit linearer Sonderbewegung in einen großen Totalkomplex zu vereinen, bewährt sich die polyphone Kunst des Meisters. Was er schafft ist entstanden aus der Vorstellung der Gesamtheitswirkung, ist bestimmt, ohne Verlust seiner Eigenheit sich zu überindividueller Erscheinung zusammenzuschließen. Der Unterschied der stimmlichen Einzelwesen ist lediglich Unterschied der Lage, des Klanges, der Bewegungsschnelligkeit, dem Charakter nach sind alle gleich, gehören alle der gleichen Gefühlsdimension an, sind sie Linien, die sich nach dem Gesetz des Bewegungsimpulses ineinanderschlingen, schneiden, zum Ornament formen, ohne je die reale Sinnlichkeit der Linie, die Festigkeit des individuellen Seins zu verlieren. Als Sprachmittel ist die Orgel mit der reichgegliederten und doch im Charakter gleichartigen Fülle ihrer Klangschichtungen das typische instrumentale, der vielstimmige Chor mit seinen artverwandten Stimmindividuen das vokale Ausdruckselement der Polyphonie.


Date: 2015-12-11; view: 621


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