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Das Patent

Lincoln Child

 

Das Patent

 

 

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Wenn der Vergnügungspark zum Alptraum wird

 

Der gigantische Freizeit- und Vergnügungspark Utopia inmitten der Wüstenlandschaft Nevadas ist ein Riesengeschäft. Elektronische Sensationen, Roboter und raffinierte Hologrammprojektionen ziehen die Besuchermassen an. Kein Wunder, dass der Erfolg den Edelgangster John Doe anlockt, der eine ausgewählte Crew von Computerfachleuten und Killern um sich schart. Objekt der verbrecherischen Begierde ist vor allem ein Patent, mit dem die Betreiber des Parks ungeahnte Gewinne zu machen hoffen.

 

Schon kommt es aufgrund von Computermanipulationen zu erschreckenden Zwischenfällen auf dem Gelände, denn die Erpresser drohen, den Park Schritt für Schritt ins Chaos zu stürzen …

 

ISBN: 3-426-19632-8

 

Original: Utopia

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ronald M. Hahn

Verlag: Droemer

 

Erscheinungsjahr: 2004

 

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München


 

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!



Buch

 

Dr. Andrew Warne, Spezialist in Sachen Künstliche Intelligenz und Schöpfer des Computersystems des Vergnügungsparks Utopia, wird zu einem Besuch des Parks eingeladen – mit dem Hintergedanken, er könne Ordnung in das von geheimnisvollen Manipulationen beeinträchtigte Netz bringen. Am Tag, an dem er mit seiner vierzehnjährigen Tochter eintrifft, steht fest: Erpresser haben das gesamte System unter Kontrolle. Sie wollen die Herausgabe eines revolutionären Patents erzwingen, das einen Riesenprofit verspricht. Während sich die von den Verbrechern angedrohte Katastrophe ankündigt, ist Warnes Tochter ohne ihn im Park unterwegs. Nur dank seiner Fachkenntnis kann es ihm gelingen, das Leben seines Kindes und Tausender ahnungsloser Menschen im letzten Moment zu retten.

 

»Wenn Sie intelligente Unterhaltung suchen – besser können Sie nicht bedient werden.«

The Washington Post


Autor

 

 

Lincoln Child war Verlagslektor und Herausgeber von Anthologien, ehe er 1995 zusammen mit Douglas Preston den Weltbestseller Relic schrieb. Mit bisher sieben weiteren international gefeierten Thrillern setzte das Erfolgsteam seine Zusammenarbeit fort. Das Patent ist der erste Soloroman Childs, zu dem er nicht zuletzt von seinem Partner ermuntert wurde. Der Autor lebt mit Frau und Tochter in Morristown, New Jersey.


Für meine Tochter Veronica


Prolog

 

Eins wusste Corey genau: Es war der größte Hammer aller Zeiten. Er hatte nicht nur ein Jack-the-Ripper -T-Shirt ergattert – genau das, von dem seine Mutter drei Monate lang geschworen hatte, sie werde es ihm nie kaufen –, jetzt wollte die ganze Familie auch noch die »Notting-Hill-Hatz« mitmachen. Jeder wusste, dass diese Achterbahn die tollste in Gaslight war. Ach was, im ganzen Freizeitpark! Vor vier Wochen hatten zwei seiner Schulfreunde einen Ausflug hierher gemacht, aber die hatten die Fahrt nicht machen dürfen. Corey hingegen war dazu entschlossen. Er hatte bemerkt, dass es seinen Eltern hier saugut gefiel. Eigentlich gegen ihren Willen. Aber er hatte geahnt, dass es so kommen würde: Utopia war schließlich der neueste und beste Freizeitpark der Welt. Ein Familiengesetz nach dem anderen war den Bach runtergegangen, dann hatte er zum Generalangriff ausgeholt: Eine halbe Stunde heftigen Gequengels hatte seine Eltern geschafft. Und nun, da die Warteschlange vor ihnen kürzer wurde, wusste Corey, dass er das Spiel gewonnen hatte.



 

Man sah sofort, dass die Achterbahn sogar für hiesige Verhältnisse Pfiff hatte. Sie standen in einer ziemlich gewundenen Gasse. Zu beiden Seiten ragten alte Häuser auf. Eine kühle Brise umwehte sie. Sie roch irgendwie muffig. Wie haben sie das wohl getrickst? In den Leuchtkörpern der eisernen Straßenlaternen brannten Flämmchen. Natürlich war es neblig, wie überall in Gaslight. Jetzt konnte Corey schon die Einsteigeplattform erkennen. Zwei Frauen mit komisch aussehenden Hüten und langen schwarzen Kleidern halfen einer Besuchergruppe in eine niedrige offene Kutsche mit


 



großen Holzrädern. Sie machten die Türen zu und traten zurück. Die Kutsche ruckelte vorwärts, die Räder drehten sich rhythmisch. Das Gefährt verschwand unter einem dunklen Überhang. Die nächste leere Kutsche kam und nahm seine Stelle ein. Wieder ging eine Gruppe an Bord. Das Gefährt rollte weiter, und Corey verlor es aus dem Blickfeld. Die nächste Kutsche kam. Jetzt waren sie an der Reihe.

 

Corey befürchtete einen kurzen Augenblick, er sei vielleicht zu klein für die Achterbahn, deshalb reckte er an der Stange, mit der die Größe der Passagiere gemessen wurde, in herkulischem Bemühen den Hals. Als eine der Damen ihn und seine Familie zur Kutsche führte, zitterte er vor Aufregung.

 

Er schoss wie ein Spürhund zum Vordersitz und nahm ihn sofort in Beschlag.

Sein Vater runzelte die Stirn. »Willst du wirklich vorn sitzen, Skipper?«

Corey nickte energisch. Schließlich machte dies die Fahrt doch gerade so überwältigend. Die Kutschensitze lagen sich gegenüber. Also mussten die beiden, die vorn saßen, rückwärts fahren.

 

»Ich mag das nicht«, maulte seine Schwester und nahm neben ihm Platz.

Corey brachte sie mit einem festen Schubs zum Schweigen.

 

Warum hatte er keinen lässigen großen Bruder wie Roger Prescott? Wieso war er mit einer Heulsuse von Schwester geschlagen, die Pferdebücher las und schon Videospiele für brutal hielt?

 

»Strecken Sie die Arme und Beine nie aus der Barouche heraus«, sagte die Dame mit einem komischen Akzent, von dem Corey vermutete, dass er britisch war. Er kannte


 



zwar keine Bruusch, aber es spielte auch keine Rolle. Gleich ging die »Notting-Hill-Hatz« los. Jetzt hielt ihn niemand mehr auf.

 

Die Dame schloss die Tür. Die Haltestange ging automatisch vor Coreys Brustkorb in Position. Die Kutsche ruckte an.

 

Seine Schwester quietschte leise, weil sie sich fürchtete. Corey schnaubte verächtlich.

Als sie sich in Bewegung setzten, schob er den Kopf seitlich heraus und blickte nach oben und unten. Seine Mutter rief ihn zwar schnell zur Ordnung, aber da hatte er schon entdeckt, dass die Kutsche auf einer Art Treibriemen fuhr, der schlau getarnt und in der Düsternis fast unsichtbar war. Die Räder drehten sich nur, weil es zur Show gehörte. Es war Corey egal. Die Kutsche zockelte tiefer in die Finsternis hinein. Das Klappern des elektronisch verstärkten Hufschlags wurde lauter. Corey hielt den Atem an. Als er spürte, dass die Kutsche einen Steilhang hinauffuhr, konnte er ein aufgeregtes Grinsen nicht unterdrücken. Nun erkannte er, dass sich in dem ihn umgebenden Dunkel die verschwommenen Umrisse einer Stadt ausbreiteten. Tausend in der Abendluft flimmernde, dampfende Spitzdächer. Und weiter entfernt: ein toll aussehender Turm. Die winzige Infrarotkamera, die in seinem obersten Fenster versteckt war, bemerkte er nicht.

 

Als der Junge im Jack-the-Ripper-T-Shirt die Steigung Alpha hinauffuhr, überwachte Allan Presley zwölf Meter tiefer uninteressiert den Monitor. Das Shirt war seit vier Monaten trotz seines Stückpreises von neunundzwanzig Dollar der beliebteste Artikel in Gaslight. Erstaunlich, wie die Brieftaschen sich öffneten, sobald die Leute hier waren.


 



Und was das Thema Öffnen anbetraf, so riss das Bübchen den Mund nun so weit auf, dass es fast wie eine Karikatur wirkte: Als das Gefährt, in dem der Junge saß, über den Dächern des sich rings um ihn ausbreitenden viktorianischen London dahinfuhr, schaute er sich so schnell um, dass seine Bewegungen grünliche Wärmespuren auf dem Infrarotmonitor hinterließen. Natürlich ahnte der Junge nicht, dass er in einem zylinderförmigen Projektionsschirm in die Höhe stieg, dessen digitales Bild von zwei Dutzend Kameras auf die Fiberoptiklichter der Stadtlandschaft geworfen wurde. Es war natürlich eine Illusion. In Utopia zählten nur Illusionen.

 

Presleys Blick fiel kurz auf das neben dem Jungen sitzende Mädchen. Zu jung, um interessant zu sein. Außerdem waren die Eltern dabei. Er seufzte.

 

In den meisten die Nerven kitzelnden Fahrgeschäften des Parks waren strategisch günstig an den letzten haarsträubenden Gefällen Kameras positioniert, die den Gesichtsausdruck der Fahrgäste einfingen. Wer am Ausgang fünf Dollar bezahlte, konnte eine Aufnahme von sich erwerben, auf der er in der Regel wie ein Blödmann grinste oder starr vor Furcht war. Unter den herausfordernden jungen Frauen hatte es sich jedoch inzwischen eingebürgert, vor der Kamera die Brüste zu entblößen. Natürlich bekam die Öffentlichkeit diese Fotos nie zu sehen. Die hinter den Kulissen tätige männliche Mannschaft fühlte sich von diesen Aufnahmen freilich gut unterhalten. Man hatte sogar einen Begriff für diese weibliche Praxis geprägt: mopsieren. Presley schüttelte den Kopf. Die Mannschaft vom »Wildbach« in Boardwalk kriegte dergleichen zwölf- bis fünfzehnmal am Tag zu sehen. Hier in Gaslight kam es seltener vor, besonders zu dieser frühen Stunde.


 



Er legte Vergils »Georgica« mit einem Seufzer beiseite und musterte flink den Rest der drei Dutzend an der Wand des Kontrollraums aufgereihten Monitore. Alles war in Ordnung, wie üblich. Nach dem technischen Standard Utopias war die »Hatz« zwar eine relativ einfach strukturierte Bahn, aber dafür lief sie mehr oder weniger von allein. Wenn Presley überhaupt einmal etwas Aufregendes zu sehen bekam, war es höchstens irgendein Idiot, der während der Fahrt auszusteigen versuchte. Auch für solche Fälle gab es eine eingefahrene Routine: An der Fahrtstrecke fuhren Störfallmatten aus, dann alarmierte Presley den Mann im Tower, der die Fahrt unterbrach, und schickte die Bereitschaft, die den Besucher wegführte.

 

Presleys Blick wanderte zu Kamera 4 zurück. Der Junge befand sich nun auf dem höchsten Punkt der Steigung. In einer Sekunde würde das ohnehin spärliche Licht ausgehen, das Gefährt würde ins erste Tal hinabrasen und der eigentliche Spaß begann. Presley konnte den Blick nicht von dem erregten Kindergesicht abwenden, das trotz des gespenstischen Infrarotlichts deutlich sichtbar blieb, und er versuchte sich an den Tag zu erinnern, an dem er zum ersten Mal die »Notting-Hill-Hatz« mitgemacht hatte. Trotz der vielen tausend Fahrten, die er inzwischen als Schichtführer beaufsichtigt hatte, fiel ihm auch jetzt nur ein Wort ein, das die Sache treffend beschrieb: Zauberei.

 

Der Konsolenlautsprecher knisterte. »He, Elvis.«

 

Presley antwortete nicht. Wenn man als Weißer in Amerika lebte und Presley hieß, musste man allerhand ertragen. Wie jemand, der Hitler hieß. Oder vielleicht Jesus. Nur Menschen spanischer Abstammung hatten die Stirn, ein Kind so zu nennen …

 

»Hörste mich, Elvis?«

 

Presley erkannte Cales nasale Stimme. Er saß drüben am


 

 



»Hindernislauf«.

 

»Yeah, yeah«, sagte er in sein Mikro hinein. »Is bei euch irgendwas los?«

»Nee. Tote Hose.«

 

»Hier auch. Tja, mehr oder weniger. Wir hatten heute Morgen vier Kotzer. Wumm. Einen nach dem anderen. Hättest du sehen sollen. Der Ausstieg sah aus wien Schlachtfeld. Die mussten zehn Minuten schließen, damit der Reinigungstrupp sauber machen konnte.«

 

»Faszinierend.« Der ganze Kontrollraum bebte, als eins der Gefährte das letzte Gefälle hinabraste und die Fahrt sich ihrem Ende näherte. Als die Kutsche dem Ausstieg entgegenfuhr, warf Presley automatisch einen Blick auf die Kamerareihen. Er sah benommene, aber glückliche Gesichter.

 

»Gib mir Bescheid, wenns was Gutes zu sehen gibt«, fuhr Cale fort. »Ein Restaurantkoch hat mir erzählt, dass heute Abend ne Prominentenmeute hier aufkreuzen soll. Vielleicht komm ich nach der Schicht vorbei.«

 

Auf der Schalttafel vor Presley blinkte eine rote Warnleuchte. »Muss Schluss machen«, sagte er. Er drückte einen Knopf, der ihn mit dem Tower verband. »Ich hab hier nen Sicherungskrallen-Ausfall an der Omegakurve.«

 

»Yeah, seh ich«, kam die Antwort. »Was machen die Roboter?«

 

»Schmierarbeiten am ›Gespensterteich‹.« »Okay. Ich sag der Werkstatt Bescheid.«

»Verstanden.« Presley lehnte sich zurück und beobachtete erneut die Monitore. Die Warnlichter gingen alle Nase lang an. Die Achterbahnen verfügten über so viele überflüssige Sicherungen, dass es nie einen Grund


 



zur Sorge gab.

 

Die meisten Alarme waren ohnehin Fehlschüsse. In Gefahr befanden sich nur die Mechaniker, die rechtzeitig die Rübe und die Pfoten einziehen mussten, wenn die Achterbahn fuhr.

 

Corey hielt sich krampfhaft an der Haltestange fest und schrie aus vollem Halse. Er spürte den Druck der Schwerkraft auf seinem Brustkorb. Sie zerrte beharrlich an seinen Achselhöhlen und wollte ihn aus dem Wagen heben. An der höchsten Stelle der Erhebung, sagte die Beschreibung, wurden die imaginären Pferde von einer geisterhaften Erscheinung erschreckt und gingen durch. Corey war von einem lärmenden Pandämonium umgeben: dem Rattern der außer Rand und Band geratenden Kutsche, dem schrillen Wiehern der in Panik geratenen Pferde. Und alles wurde vom durchdringenden Kreischen seiner Schwester übertönt, das ihn sehr freute. So was Tolles hatte er noch nie erlebt.

 

Nun jagten sie einen gepflasterten Hügel hinab und fegten an einer Reihe erstaunlich realistischer Kulissen vorbei: einem einsamen Geistersee, einem Labyrinth finsterer, enger Gassen, einem Hafen mit verrottenden Kais, den die dunklen Schatten von Segelschiffen beherrschten. Dann ruckte die Kutsche – einmal, zweimal

 

– so heftig hoch, dass Coreys Magen einen Purzelbaum schlug. Er klammerte sich noch fester an die Stange als zuvor, denn auch ihm waren die Gerüchte über das zu Ohren gekommen, was ihn am Ende der Fahrt erwartete: Die Kutsche würde den Hügel hinabstürzen und geradewegs durch das schwarze Nichts segeln.

 

»Ich bin an Kralle 91. Is nix dran. Hör mal, Dave, weißte


 



eigentlich, warum Ärzte, wennse deine Nüsse inne Hand nehmen, immer sagen, du sollst den Kopf zur Seite drehen?«

 

»Nee.«

 

Presley lauschte dem Funkgeplapper der Mechaniker mehr oder weniger automatisch, hörte aber nicht richtig hin. Sein Blick wanderte über die Monitore, dann nahm er sich wieder die »Georgica« vor. Er hatte seinen Abschluss in Berkeley in klassischer Literatur gemacht und eigentlich immer seinen Doktor machen wollen, aber jetzt brachte er nicht mehr die Kraft auf, Utopia zu verlassen und das Studium noch mal aufzunehmen. Es sah so aus, als sei er der einzige Mensch in Nevada, der Latein sprach. Er hatte mal versucht, seine diesbezüglichen Kenntnisse anzuwenden, um eine Frau aufzureißen. Es hatte nicht geklappt.

 

»… tja, jemand hats mir erklärt. Die Ärzte wollen nicht, dass man ihnen, wenn man hustet, ins Gesicht spuckt.«

»Echt? Das is alles? Und ich hab immer gedacht, die sagen das aus anatomischen Gründen, weil … He, gütiger Himmel, Kralle 94 ist ausgebrannt.«

 

Presley richtete sich auf und hörte genauer hin.

 

»Was soll das heißen, Mann – ›ausgebrannt‹? Das ist doch keine Glühbirne, verdammt!«

»So, wie ichs gesagt hab. Sie qualmt und stinkt wie die Sau. Ist wahrscheinlich überlastet worden. Hab so was noch nie gesehen, nich mal im Simulator. Kralle 95 sieht so ähnlich aus …«

 

Presley sprang auf. Hinter ihm rotierte ratternd sein Drehstuhl. Er warf einen Blick auf die Schaubildanzeige der Achterbahn. Die Sicherungskrallen 94 und 95 kon-trollierten das letzte senkrechte Gefälle der Omegakurve.


 

 



Das war nicht gut. Na schön, die Sicherheitssysteme würden jeden sich nähernden Verkehr anhalten. Aber er hatte noch nie gehört, dass eine Kralle versagt hatte. Schon gar nicht zwei hintereinander. Es gefiel ihm nicht. Er griff nach dem Funkgerät und sprach den Operator im Tower an. »Frank, lass alles fallen! Schalt das Ding ab!«

 

»Schon dabei. Aber … Oh, mein Gott … Da kommt noch ne Fuhre …«

Presleys fachmännischer Blick flog zu den Monitoren hinüber. Was er sah, ließ das Blut in seinen Adern erstarren.

 

Eine Kutsche fegte den letzten Abhang der »Notting-Hill-Hatz« hinab. Aber es war nicht die gleichmäßige, kontrollierte Fahrt in die Tiefe, die er so oft gesehen hatte. Die Kutsche kippte aus der vertikalen Spur; ihr freistehendes Fahrgestell schwang schrecklich hin und her. Die Insassen wurden an die Haltestangen gedrückt und klammerten sich aneinander fest. Das Weiß ihrer Augen und das Rosa ihrer Zungen erschienen auf dem Monitorbild blassgrün. Zwar hörte Presley keinen Ton, aber er wusste, dass die Leute schrieen.

 

Als die Geschwindigkeit der Kutsche höher wurde, kippte sie noch mehr. Dann gab es einen kreischenden Ruck. Ein Insasse flog nach vorn. Seine kleinen Hände griffen panisch um sich, aber die Schwerkraft war zu stark. Seine Hand rutschte an der Haltestange ab und verfehlte die verzweifelt nach ihm greifenden Hände der Erwachsenen. Als er mit erschreckender Geschwindigkeit nach unten sauste und, sich mehrmals überschlagend, auf die Kamera zuflog, konnte Presley gerade noch das Jack-the-Ripper-T-Shirt erkennen.

 

Dann setzte der Aufschlag die Überwachungskamera außer Gefecht.


 



Zwei Wochen später


 

 



7.30 Uhr

 

Oberhalb des Las Vegas Strip beginnt der Rancho Drive am Charleston Boulevard, biegt dann lässig nach links ab und führt auf geradem Weg nach Reno. Er zieht sich mit vollkommener Präzision nach Nordwesten und ignoriert alle natürlichen und künstlichen Verlockungen, sich zu schlängeln, als könne er es nicht erwarten, das Neonlicht und den grünen Filz weit hinter sich zu lassen. Man lässt Country-Clubs, Einkaufszentren und schließlich auch die traurig aussehenden Vorstädte aus Pseudoerdziegeln hinter sich. Die unter dem Asphalt und der Betonlandschaft verborgene Mojave-Wüste nimmt ihr eigenes Ich wieder an. Spinnenartige Sandtentakel laufen über das hinweg, was die Straßenschilder Route 95 nennen. Hier und da sieht man wie Punkte in der Wüste zottig vor sich hin wuchernde Joshuabäume. Kakteen stehen wie Standartenträger im Nichts.

 

Nach dem hektischen und wimmelnden Prunk kommt einem der schrittweise Wechsel in den riesigen Leerraum wie ein Besuch auf einem anderen Planeten vor. Wenn man vom Highway absieht, scheint diesen Ort noch keine Menschenhand berührt zu haben.

 

Andrew Warne drehte den Rückspiegel steil nach rechts oben und seufzte erleichtert, als die blendende Helligkeit wich. »Wie konnte ich nur ohne Sonnenbrille nach Las Vegas fahren?«, sagte er. »Hier scheint die Sonne doch dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr.«

 

Das Mädchen auf dem Sitz neben ihm grinste schadenfroh und rückte seinen Kopfhörer zurecht. »Tja, so ist mein Papa eben. Ganz der zerstreute Professor.«

 

»Exprofessor, meinst du wohl.«


 



Die Straße vor ihnen war ein versengter weißer Strich. Die Wüste um sie herum war vom Glast gebleicht, die Yucca- und Creosotebüsche kaum mehr als bleiche Gespenster. Warne kam gedankenlos mit der Hand ans Fenster und riss sie sofort zurück. Halb acht, und schon herrschten hier draußen fast dreißig Grad Celsius. Sogar der Mietwagen schien sich an die Bedingungen der Wüste angepasst zu haben: Die Klimaanlage arbeitete mit voller Kraft.

 

Als sie nach Indian Springs kamen, ragte östlich von ihnen ein Plateau auf. Der Luftwaffenstützpunkt Nellis. Nun stieß man alle paar Kilometer auf Tankstellen. In dieser Leere wirkten sie nicht nur völlig fehl am Platze, sie waren auch so blitzsauber, dass Warne den Eindruck gewann, man hätte sie gerade erst ausgepackt. Er warf einen Blick auf das bedruckte Papier, das an dem Klemmbrett zwischen den Sitzen hing. Es ist nicht mehr weit. Dann sah er es schon: Ein frisch geprägtes hellgrünes Ausfahrtsschild: »Utopia. 1,5 km.«

 

Auch dem Mädchen fiel das Schild auf. »Sind wir schon da?«

»Wirklich witzig, Prinzesschen.«

 

»Du weißt doch, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn du mich so nennst. Ich bin vierzehn. So nennt man doch nur kleine Kinder.«

 

»Manchmal führst du dich wie ein kleines Kind auf.«

 

Das Mädchen setzte bei diesen Worten eine finstere Miene auf. Dann drehte es die Musik im Kopfhörer lauter. Das deutlich hörbare Pochen übertönte nun sogar das Geräusch der Klimaanlage.

 

»Wenn du nicht aufpasst, kriegst du eines Tages noch Tinnitus, Georgia. Was hörst du da überhaupt?«

»Swing.«


 



»Tja, das ist doch schon mal ein Fortschritt. Letzten Monat war es Gothic Rock. Und im Monat davor – wie hieß das noch?«

 

»Euro-House.«

 

»Euro-House. Kannst du dich nicht auf eine Richtung festlegen, die dir gefällt?«

Georgia zuckte die Achseln. »Dazu bin ich zu intelligent.«

Der Unterschied zeigte sich, als sie das Ende der Aus-fahrt erreichten. Der Straßenbelag war anders. Im Gegensatz zum von Rissen übersäten Beton des US Highway 95, der wie die Haut eines Reptils von zahllosen Flickstellen wimmelte, war dieser hier blass, glatt und wesentlich breiter als die Fahrbahn, die sie gerade verlas-sen hatten. Aufwändige Lampen schwangen sich elegant über den Asphalt. Zum ersten Mal seit dreißig Kilometern sah Warne andere Fahrzeuge vor sich auf der Straße. Er folgt ihnen, als die Straße glatt und ebenmäßig aus der ausgelaugten Ebene anstieg. Die Schilder waren weiß und mit blauen Buchstaben beschriftet, die offenbar alle das Gleiche zu sagen hatten: »Besucherparkplatz geradeaus.«

 

Der um diese Zeit fast leere Parkplatz war so groß, dass er einen fast benommen machte. Warne folgte den Pfeilen und kam an einer Reihe überdimensionaler Werbetafeln vorbei, die aufgrund der Ausdehnung des Asphalts wie winzige Insekten wirkten. Als er erfahren hatte, dass im Park täglich siebzigtausend Besucher abgefertigt wurden, hatte er ungläubig geprustet. Doch nun neigte er dazu, es zu glauben.

 

Georgia, auf dem Sitz neben ihm, schaute sich um. Trotz der einstudierten Blasiertheit des typischen Teenagers konnte sie ihre Gespanntheit nicht gänzlich verbergen.

 

Zwei Kilometer weiter erreichten sie das Ende des


 



Parkplatzes und ein lang gestrecktes, flaches Gebäude. Art-déco-Buchstaben auf dem Dach verkündeten: »Einschiffung.«

 

Hier standen weitere Autos. Außerdem wimmelte es von kurz behosten, Sandalen tragenden Menschen. Als Warne auf ein Kassenhäuschen zufuhr, tauchte ein Parkplatzwächter auf und signalisierte ihm, er solle die Seitenscheibe herunterdrehen. Der Mann trug ein weißes Polohemd. Auf seiner linken Brusthälfte war das Emblem eines kleinen Vogels zu sehen.

 

Warne griff in einen Schnellhefter und entnahm ihm eine laminierte Karte. Der Angestellte studierte sie, dann nahm er ein Lesegerät vom Gürtel und schaute auf den Monitor. Kurz darauf händigte er Warne die Kennkarte wieder aus und winkte ihn durch.

 

Warne stellte den Wagen neben einer Reihe gelber Zubringerbusse ab und ließ die Karte in der Hemdtasche verschwinden. »Wir sind da«, sagte er. Dann schaute er reglos zum Einschiffungsgebäude hinüber und dachte kurz nach.

 

»Du hast doch wohl nicht vor, wieder mit Sarah anzubandeln, oder?«

Warne, von der Frage überrascht, drehte den Kopf. Georgia wich seinem Blick nicht aus.

Es war manchmal wirklich bemerkenswert, wie sie seine Gedanken las. Vielleicht lag es daran, dass sie so viel Zeit miteinander verbrachten; dass sie sich in den letzten Jahren sehr oft aufeinander hatten verlassen müssen. Doch egal, woran es lag: Es konnte einem gelegentlich auf die Nerven gehen.

 

Besonders dann, wenn es um sensible Dinge ging.

 

Georgia nahm den Kopfhörer ab. »Tus nicht, Papa. Sie ist ne alte Aufreißerin.«


 



»Pass auf, was du sagst, Georgia!« Warne entnahm dem Schnellhefter einen kleinen weißen Umschlag. »Weißt du, ich glaube, dass es auf der ganzen Welt keine Frau gibt, mit der du zufrieden wärst. Willst du etwa, dass ich für den Rest meines Lebens Witwer bleibe?«

 

Er hatte etwas heftiger reagiert als beabsichtigt. Georgias einzige Reaktion bestand darin, dass sie die Augen zum Himmel verdrehte und den Kopfhörer wieder aufsetzte.

 

Andrew Warne liebte Georgia so sehr, dass es fast wehtat. Trotzdem hatte er nie geahnt, wie schwierig es werden würde, alles allein zu tun und eine Tochter aufzuziehen.

 

Manchmal fragte er sich, ob er dieser Aufgabe überhaupt gewachsen war. In Augenblicken wie diesen fehlte Charlotte ihm am meisten. Sie hätte gewusst, was zu tun war. Sie hatte es immer gewusst.

 

Er schaute Georgia noch einmal kurz an. Dann seufzte er, griff nach der Tür und stieß sie auf.

Sofort fegte die Hitze eines Feuerofens in den Wagen hinein.

Warne stieg aus und warf die Tür zu. Er wartete, bis Georgia ihren Rucksack geschultert hatte und ihm folgte. Dann eilte er über den spiegelnden Asphalt zum Transportzentrum.

 

Im Inneren war es erfreulich kühl. Das Zentrum sah makellos und funktionell aus und war mit hellem Holz und poliertem Metall verkleidet. Mit Glasfenstern versehene Kassenschalter zogen sich in endlosen Reihen nach links und rechts, doch bis auf einen, der genau vor ihnen lag, waren alle unbesetzt. Warne zeigte die laminierte Karte noch einmal vor, dann waren sie drin und gingen durch einen hell erleuchteten Korridor. In etwa einer Stunde, das wusste er, würde es hier von genervten Eltern,


 



quengelnden Kindern und schnatternden Fremdenführern nur so wimmeln. Doch jetzt gab es kaum etwas anderes als metallene Führungsgeländer und das Klicken von Absätzen auf blitzsauberen Böden.

 

Im Einstiegsbereich wartete bereits mit offenen Türen eine silberne Schwebebahn. Seitlich wölbten sich riesige Fenster, die an dem Antriebsmechanismus endeten, der sich an die über ihnen befindliche Metallschiene klammerte. Warne war noch nie zuvor mit einer Schwebebahn gefahren. Er war auch nicht wild darauf. Im Inneren der Bahn erblickte er einen Haufen Passagiere, hauptsächlich Männer und Frauen in Bürokleidung. Ein Utopia-Mitarbeiter bedeutete ihnen, zum vordersten Wagen zu gehen. Der Wagen war blitzsauber wie alles hier. Die einzigen Insassen waren ein stämmiger Mann, der ganz vorn, und ein kleiner Brillenträger, der ganz hinten saß. Obwohl die Schwebebahn das Zentrum noch nicht verlassen hatte, schaute der Stämmige sich geschäftig um. Sein teigiges Gesicht mit den dichten Brauen wirkte aufgeregt und erwartungsvoll.

 

Warne überließ Georgia den Fensterplatz und ließ sich neben ihr nieder. Sie saßen kaum, als ein leises Läuten erklang und die Türen sich lautlos schlossen. Dann kam ein kurzer Ruck, und die Bahn setzte sich sanft in Bewegung. »Willkommen in der Utopia-Schwebebahn«, sagte eine weibliche Stimme, die von überall und nirgends kam. Es war nicht die Stimme, die Warne von den üblichen Ansagesystemen her kannte: Sie klang vielmehr volltönend und kultiviert und hatte einen leicht britischen Akzent. »Die Fahrtdauer zum Nexus beträgt ungefähr achteinhalb Minuten. Zu Ihrer Sicherheit und Bequemlichkeit bitten wir Sie, die Sitzplätze während der Fahrt nicht zu verlassen.«

 

Als das Zentrum hinter ihnen verschwand, wurde das


 



Abteil plötzlich in helles Licht getaucht. Über ihnen zog sich die Doppelschiene der Schwebebahn sanft durch eine enge Sandsteinschlucht. Warne warf einen raschen Blick nach unten und riss überrascht die Füße hoch. Das, was er für festen Boden gehalten hatte, bestand in Wirklichkeit aus Glasplatten. Unter seinen Füßen gähnte ein deutlich sichtbarer Abgrund, der bis zum felsigen Schluchtboden etwa dreißig Meter tief war. Warne schnappte nach Luft und schaute weg.

 

»Boah«, sagte Georgia.

 

»Die Schlucht, die wir durchfahren, ist geologisch sehr alt«, fuhr die einschmeichelnde Stimme fort. »An ihrem Rand können Sie Wacholder, Salbeibüsche und Gestrüpp sehen, das für die Hochwüste typisch ist …«

 

»Ist es zu fassen?«, sagte eine Stimme neben ihm. Warne wandte sich um und sah, dass der Stämmige – in eklatantem Widerspruch zu dem Edikt, dass man sitzen bleiben sollte – durch die Bahn nach hinten gekommen war, um ihnen gegenüber Platz zu nehmen. Er trug ein ätzend orangerot geblümtes Hemd, hatte glänzend schwarze Augen und ein Lächeln, das für sein Gesicht zu groß wirkte. Er hielt wie Warne einen kleinen Umschlag in der Hand. »Pepper, Norman Pepper. Mein Gott, was für eine Aussicht! Und dann auch noch im ersten Waggon! Wir haben bestimmt eine tolle Aussicht auf den Nexus. Ich war zwar noch nie hier, aber ich habe gehört, es soll phänomenal sein. Phänomenal! Man muss es sich mal vorstellen – die haben einen ganzen Berg, oder eine Mesa oder wie man es nennt, gekauft, um einen Vergnügungspark daraus zu machen! Ist das Ihre Tochter? Da haben Sie aber ein hübsches Mädchen.«

 

»Sag danke, Georgia!«, sagte Warne.

 

»Danke, Georgia«, kam die wenig überzeugende


 

 



Antwort.

 

»… Auf der Schluchtwand rechts von der Bahn sehen Sie eine Reihe von Piktogrammen. Diese rotweißen Anthropomorphen sind das Werk der prähistorischen Bewohner dieser Region aus der Periode, die wir nun Korbmacher zwei nennen und die vor fast dreitausend Jahren in voller Blüte stand …«

 

»Und was ist Ihre Spezialität?«, fragte Pepper. »Wie bitte?«

Pepper hob seine eckigen Schultern an. »Tja, allem Anschein nach arbeiten Sie nicht hier, weil Sie mit der Schwebebahn reinfahren. Da der Park noch nicht geöffnet hat, sind Sie wohl auch kein Besucher. Das bedeutet, dass Sie entweder Berater oder Experte sind. Nicht wahr? Wie alle anderen in dieser Bahn. Da gehe ich jede Wette ein.«

 

»Ich bin … ich hab mit Robotik zu tun«, erwiderte Warne.

»Robotik?«

 

»Künstliche Intelligenz.«

 

»Künstliche Intelligenz«, wiederholte Pepper. »Aha.« Er holte Luft und öffnete den Mund zur nächsten Frage.

»Und Sie?«, wandte Warne schnell ein. Peppers Lächeln wurde noch breiter. Er drückte einen Finger an sein Nasenbein und zwinkerte wie ein Verschwörer.

 

»Dendrobium giganteum.«

 

Warne schenkte ihm einen verständnislosen Blick.

 

»Cattleya dowiana. Kennen Sie nicht?« Pepper wirkte entsetzt.

Warne breitete die Hände aus. »Bedaure.«

 

»Orchideen.« Pepper zog die Nase hoch. »Ich dachte, Sie hätten es vielleicht anhand meines Namens erraten. Ich


 



bin der Exotenbotaniker, der im letzten Jahr die ganze Arbeit bei der New Yorker Weltausstellung gemacht hat. Vielleicht haben Sie was darüber gelesen? Na ja, die Leute hier wollen ein paar besondere Hybriden für das Athenäum, das in Atlantis gebaut wird. Außerdem haben sie ein paar Probleme mit den Nachtblühern in Gaslight. Denen bekommt die Feuchtigkeit wohl nicht.« Er breitete die Arme so weit aus, dass er Warne den Umschlag aus der Hand schlug und seinen eigenen gleich mit zu Boden fallen ließ. »Sie sind für alle Spesen aufgekommen, haben mir ein Erster-Klasse-Ticket geschickt und ein dickes Beraterhonorar überwiesen. In meiner Biografie wird es sich auch ganz gut machen.«

 

Warne nickte. Pepper hob die heruntergefallenen Umschläge auf und gab ihm den seinen zurück. Das war wohl wahr.

 

Utopia war in der Genauigkeit seiner Themenwelten angeblich so fanatisch, dass man hier gelegentlich Gelehrte herumwandern sah, die sich mit zusammengebissenen Zähnen Notizen machten. Georgia schaute in die Schlucht hinunter und schenkte Pepper keine Beachtung.

 

»… Die dreißig Quadratkilometer, die Utopia umfasst, sind reich an natürlichen Ressourcen und Schönheiten, zu denen auch zwei Quellen und ein Auffangbecken gehören …«

 

Pepper drehte sich um. »Und Sie?«

 

Warne hatte den schmächtigen, hinter ihnen sitzenden Mann mit der Brille fast vergessen. Der Mann blinzelte zurück, als denke er über die Frage nach. »Smythe«, sagte er. »Pyro.«

 

»Pyrotechniker? Meinen Sie so was wie Feuerwerke?« Der Mann fuhr sich mit den Fingern über seinen dünnen,


 



im Schatten seiner Nase wachsenden Zahnbürstens-chnauzbart.

»Ich gestalte spezielle Vorstellungen, wie die Sechsmonatsfeier, die wir kürzlich hier hatten. Ich löse aber auch Probleme. Manche Raketen, die abends hier abgefeuert werden, fliegen zu hoch und zerdeppern die Glasplatten der alles umfassenden Kuppel.«

 

»Kaum zu glauben«, sagte Pepper.

 

»Bei der ›Greifenturm‹-Show beschweren sich die Besucher außerdem über die Lautstärke der Kanonenschläge, die am Ende der Vorstellung gezündet werden.« Smythe verfiel abrupt in Schweigen, zuckte die Achseln, drehte sich zur Seite und blickte aus dem Fenster.

 

Warnes Blick richtete sich auf die vorbeiziehenden rostbraunen Felsen. Dann wandte er sich wieder dem Inneren der Schwebebahn zu. Irgendetwas hatte ihn gestört. Jetzt wurde ihm plötzlich klar, was es war. Er wandte sich an Pepper.

 

»Wo sind eigentlich die ganzen Figuren, die hier für die Action sorgen: Oberon, Morpheus, Pendragon? Ich hab noch keine Spur von ihnen gesehen.«

 

»Ach, die sind schon irgendwo – in den Läden und den Attraktionen für die Kleinen. Aber Typen, die in Mäusekostümen rumlaufen, kriegt man hier nicht zu sehen. Da war Nightingale, hab ich gehört, sehr bestimmt. Er hat sich große Gedanken über die Reinheit des Erlebnisses gemacht. Deswegen ist all dies auch …« – Pepper schwenkte eine feiste Hand –, »… das Transportzentrum, die Schwebebahn und auch der Nexus, bewusst zurückhaltend aufgezogen. Ohne Kommerz. Macht die eigentlichen Welten viel realistischer.

 

Hab ich jedenfalls so gehört.« Er drehte sich zu dem


 



stillen Mann hinter ihnen um. »Nicht wahr?« Smythe nickte.

Pepper beugte sich zu Warne vor. »Hab persönlich nie allzu viel von Nightingales Sachen gehalten. Die Zeichentrickfilme aus der ›Blackstone-Chronik‹, die auf seiner alten Zaubershow basieren, finde ich zu finster. Aber meine Kinder sind verrückt danach. Sie schauen sich diese Animationsfilmchen jede Woche an. Man kann die Uhr danach stellen. Sie haben mich fast umgebracht, als sie gehört haben, dass ich hierher komme und sie nicht mitdürfen.« Pepper kicherte und rieb sich die Hände. Warne kannte zwar Bücher, in denen sich Menschen in froher Erwartung die Hände rieben, aber er wusste nicht genau, ob er schon mal jemanden dabei beobachtet hatte.

 

»Meine Tochter hätte mich auch umgebracht, wenn ich sie nicht mitgenommen hätte«, erwiderte er. »Autsch!«, rief er, als Georgia ihn unter dem Sitz trat.

 

Ein kurzes Schweigen. Warne rieb sich den Unterschenkel.

»Glauben Sie auch, dass unter dem Park ein Atomreaktor vergraben ist?«, fragte Pepper.

»Häh?«

 

»Es gibt da so ein Gerücht. Denken Sie nur mal an den Stromverbrauch! Dieser Ort ist praktisch eine ganze Stadt. Stellen Sie sich mal den Strom vor, den man erzeugen muss, um die ganze Sache am Laufen zu halten – die Klimaanlagen, die Fahrgeschälte, die Computer. Im Zentrum hab ich eine Frau von der Verwaltung gefragt, und sie hat gesagt, hier wird Wasserkraft eingesetzt. Wasserkraft! Mitten in der Wüste! Ich … He, schauen Sie mal – da ist es!«

 

Warne blickte nach vorn, dann erstarrte er unwillig. Er hörte, dass Georgia heftig nach Luft schnappte.


 



Die Schwebebahn hatte gerade eine besonders scharfe Kurve genommen. Vor ihnen wurde die Schlucht beträchtlich breiter. Eine gigantische kupferfarbene Fassade erstreckte sich von einer Felswand zur anderen, vom oberen Rand der Schlucht bis zum Boden. Sie schillerte hell in der Morgensonne. Es war, als würde die Schlucht plötzlich an einer massiven Mauer aus poliertem Metall enden. Die Sackgasse war natürlich eine Illusion, denn der hinter der Mauer liegende Park wurde von einem großen, kreisförmigen Felsental umgeben. Aber der Anblick war großartig, atemberaubend und auf seine spartanische Weise wunderschön. Die einzigen Öffnungen in der Fassade waren zwei in der Mitte des oberen Teils liegende winzige Quadrate, in die die Schienen der Schwebebahn hineinführten. Am oberen Rand der Wand war in riesigen Lettern aus irgendeiner schillernden Substanz das Wort »UTOPIA« angebracht. Die Buchstaben blinkten und glitzerten, und je nach dem Stand der Sonne gingen sie an und aus. Hinter der Schrift ragte eine hohe geodätische Kuppel auf, ein kompliziertes Gitterwerk aus kristallinen Polygonen und Metallverstrebungen. Auf ihrem Scheitelpunkt knatterte eine Flagge mit dem stilisierten Emblem eines violetten Vogels auf weißem Untergrund.

 

»Boah«, sagte Georgia leise.

 

»… Wir hoffen, dass Ihr Besuch Ihnen Vergnügen bereitet. Und vergessen Sie nicht: Falls Sie irgendwelche Fragen oder Bedenken haben, sind Sie eingeladen, unsere Besuchersalons im Inneren des Nexus oder in den einzelnen Welten aufzusuchen. Bitte, bleiben Sie auf Ihrem Platz, bis die Schwebebahn ihren Haltepunkt erreicht hat.«

 

In der Bahn breitete sich Stille aus, und sie glitten ins Dunkel hinein.


 



8.10 Uhr

 

Der Nexus, ein riesiger, lang gestreckter, freundlicher Raum, war mit dem gleichen polierten Metall und Holz verkleidet wie das Transportzentrum. Restaurants, Geschäfte, Andenkenbuden und Besuchersalons reihten sich rechts und links an den Wänden auf und schienen in endlose Fernen zu reichen. An der Endstation der Schwebebahn folgte Warne den anderen eine Rampe hinunter. Georgia in seinem Schlepptau schaute sich neugierig um. Er konnte bis zur hoch über ihnen aufragenden Glaskuppel sehen, die einen gewaltigen, wolkenlosen Himmel einrahmte, der sich wie eine blaue Glocke über dem Nexus wölbte. Vor ihm glänzten im schräg einfallenden Sonnenlicht Auskunftsstände und anmutige kleine Springbrunnen. Großflächige, doch diskrete Schilder wiesen den Besuchern den Weg in die vier »Welten«, aus denen der Park bestand: Camelot, Gaslight, Boardwalk und Callisto. Die Luft war kühl, etwas feucht und voller gedämpfter Töne: menschliche Stimmen, das Plätschern von Wasser und irgendein leiserer Klang, den Warne nicht identifizieren konnte.

 

Am Ende der Rampe wartete eine Gruppe junger Männer und Frauen. Sie waren einheitlich mit weißen Blazern bekleidet und hatten Mappen unter dem Arm. Sie wirkten, als seien sie miteinander verwandt. Warne fragte sich halb im Scherz, ob die Utopia-Angestellten hinsichtlich ihrer Größe, ihres Gewicht und ihres Alters irgendwelchen Bestimmungen unterworfen waren. Als er dann sah, dass eine der Frauen mit festem Schritt auf ihn zukam, verwarf er die Idee.

 

»Dr. Warne?«, sagte die Frau. »Ich bin Amanda


 



Freeman.«

 

Sie schüttelte ihm die Hand.

 

»Ich sehe es«, erwiderte Warne und deutete mit dem Kopf auf das am Aufschlag ihres Blazers befestigte Namensschild.

 

Er fragte sich, woran sie ihn erkannt hatte.

 

»Ich bin hier, um Sie in Utopia einzuweisen und Ihnen eine kurze Orientierungshilfe zu geben«, sagte die Frau. Ihre Stimme klang angenehm und war fast so flott wie ihr Gang.

 

Sie deutete mit dem Kopf auf den kleinen Umschlag, den er in der Hand hielt. Der Rand war mit einem winzigen Strichcode versehen. »Darf ich mal?«

 

Warne gab ihr den Umschlag. Sie riss ihn auf und klopfte ihn hochkant auf ihre Handfläche. Ein stilisierter Vogel glitt heraus, doch er war grün. Amanda Freeman befestigte ihn an seiner Jacke. »Bitte, tragen Sie dieses Abzeichen, solange Sie bei uns sind.«

 

»Und warum?«

 

»Es weist Sie als Experten von außerhalb aus. Haben Sie eine Kennkarte? Gut. Mit ihr und dem Abzeichen können Sie sich auch hinter den Kulissen überall bewegen.«

 

»Das Ding ist ja besser als ne Eintrittskarte.«

 

»Halten Sie die Kennkarte immer bereit. Kann sein, dass Sie sie hin und wieder vorzeigen müssen. Die meisten Leute, die hier in der Unterwelt arbeiten, befestigen sie an einer Hemdtasche. Ist das Ihre Tochter?«

 

»Ja. Georgia.«

 

»Ich habe nicht gewusst, dass sie mitkommt. Ich muss auch ihr ein Abzeichen besorgen.«

»Danke.«


 

 



»Kein Problem. Solange ich Sie einweise, kann Georgia in der Kinderbetreuung warten. Sie können sie dann dort abholen.«

 

»In der Kinderbetreuung?«, fragte Georgia. Sie war so beleidigt, dass ihre Stimme wie Stahl klang.

 

Amanda Freeman lächelte kurz. »Eigentlich ist es die Abteilung für junge Erwachsene. Ich glaube, du wirst angenehm überrascht sein.«

 

Georgia warf Warne einen finsteren Blick zu. »Wehe, da ist nichts los, Papa!«, murmelte sie. »Ich spiel nämlich nicht mehr mit Legosteinen.«

 

Warne schaute an ihr vorbei in Richtung Ausstiegsrampe.

Smythe, der Pyrotechniker, marschierte zielbewusst ins Innere des Nexus hinab. Norman Pepper unterhielt sich aufgedreht mit einem Mann in einem weißen Blazer. Die beiden entfernten sich, wobei Pepper sich mit einem breiten Lächeln die Hände rieb.

 

Sie lieferten Georgia an einem nicht weit entfernten Betreuungstresen ab und gingen dann durch den Hauptkorridor des Nexus.

 

»Sie haben eine sehr hübsche Tochter«, sagte Amanda Freeman unterwegs.

»Danke. Aber erzählen Sie ihr das bitte nicht! Sonst wird sie noch blasierter.«

»Wie wars in der Schwebebahn?« »Hoch droben.«

 

»Wir bringen die für uns tätigen Experten am ersten Tag gern mit der Schwebebahn hierher. Damit sie ein besseres Gefühl für das kriegen, was die zahlenden Gäste erleben. Im Zuge der Einweisung werden Sie erfahren, wo die Mitarbeiter hier parken. Es ist natürlich landschaftlich


 



weniger schön, aber es erspart einem etwa eine Viertelstunde Fahrtzeit. Oder wollen Sie hier wohnen?«

»Nein, wir wohnen im ›Luxor‹.« Im Gegensatz zu den meisten Freizeitparks war Utopia auf Tagesgäste eingerichtet: Es gab keine Übernachtungsmöglichkeiten für Touristen.

 

Warne hatte jedoch erfahren, dass hinter den Kulissen ein kleines Hotel existierte: eine erstklassige Zuflucht für Prominente, in Utopia auftretende Stars und hochrangige Persönlichkeiten. Dort gab es auch einige einfachere Unterkünfte für Berater, Bands und über Nacht bleibendes Personal.

 

»Was ist mit den Uhren?«, fragte Warne und bemühte sich Schritt zu halten. Ihm war aufgefallen, dass die in die hohen Wände des Nexus eingelassenen Digitaluhren 0.45 Uhr anzeigten, obwohl es 8.15 Uhr war.

 

»Noch fünfundvierzig Minuten bis zur Stunde Null.« »Häh?«

»Utopia ist dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr geöffnet, und zwar von neun bis einundzwanzig Uhr. Wenn wir schließen, beginnen die Uhren einen zwölf Stunden langen Countdown. Damit die Darsteller und Techniker wissen, wie viel Zeit sie noch bis zur Öffnung haben. In den so genannten Welten gibt es natürlich keine Uhren, aber …«

 

»Soll das heißen, Sie brauchen zwölf Stunden, um den Park wieder auf Vordermann zu bringen?«, fragte Warne ungläubig.

 

»Es gibt eine Menge zu tun«, sagte Amanda Freeman mit einem knappen Lächeln. »Kommen Sie, wir nehmen eine Abkürzung durch Camelot.«

 

Sie führte ihn zu einem massiven Portal in der nächsten


 

 



 

Wand. Über dem Tor strahlte das Wort »Camelot« in Frakturschrift. Das Schriftbild war die bisher einzige Abweichung von der starren Formgebung des Nexus, die Warne bisher gesehen hatte: Sogar die Toilettentüren und Notausgangsschilder zeigten den gleichen Art-déco-Stil.

 

Drei Angestellte in weißen Blazern, die vor dem Camelot – Portal standen, nickten Freeman lächelnd zu. Die Frau führte Warne an ihnen vorbei und durch einen Wald von Führungsgeländern in einen breiten, leeren Warteraum. In der Wand gegenüber sah er ein halbes Dutzend riesige Metalltüren. Wie aufs Stichwort glitt eine Tür beiseite, und Amanda Freeman führte ihn in einen grottenartigen, finster gestalteten Aufzug.

 

Die Lifttür schloss sich und die hier übliche seidenweiche Frauenstimme sagte: »Sie betreten nun Camelot. Viel Vergnügen bei Ihrem Besuch.« Dann ertönte ein gedämpftes metallisches Pochen. Der Aufzug erwachte zum Leben.

 

Warne fiel allerdings auf, dass er weder nach oben noch nach unten fuhr: Er bewegte sich horizontal voran.

»Ist es weit bis zum Park?«, fragte er.

 

»Wir bewegen uns eigentlich gar nicht«, erwiderte Freeman.

»Die Liftkabine erzeugt nur eine dementsprechende Illusion.

 

Untersuchungen haben ergeben, dass die Besucher sich leichter an eine Welt anpassen, wenn sie glauben, dass sie tatsächlich eine Reise dorthin machen – und wenn sie noch so kurz ist.«

 

Die Tür gegenüber ging auf. Zum zweiten Mal in einer halben Stunde registrierte Warne, dass er überrascht

 


stehen blieb.

 

Vor ihm breitete sich eine dunkel gepflasterte Straße aus.

 

Malerisch aussehende Bauwerke – manche hatten Reetdächer, andere spitze Giebel – säumten die Seiten und führten in einen Platz, der aus der Ferne wie ein großer Dorfplatz wirkte. Hinter diesem Platz führte die Pflasterstraße rechts und links um die Außenmauer einer gigantischen sandfarbenen Burg. Über hohen Zinnen flatterten hundert bunte Banner. In der Ferne sah man weitere Türme und das schartige, grausam wirkende Antlitz eines Berges, der über einem mit Gras bewachsenen Hügel aufragte. Um seinen Gipfel wirbelte Schnee. Hoch über Warne erzeugte die Wölbung der Kuppel die Illusion eines endlosen Raumes. Die Luft roch nach Erde, frisch gemähtem Gras und Sommer.

 

Warne ging langsam. Er fühlte sich fast wie Dorothy, die aus ihrem tristen Schwarzweiß-Bauernhaus trat und sich in der bunten Landschaft des Zauberlandes Oz wiederfand.

 

Das muss Georgia sehen, dachte er. Heller Sonnenschein überdeckte die gesamte Szenerie und verlieh ihr einen sauberen, strahlenden Akzent. Da und dort bewegten sich eilige Parkmitarbeiter übers Straßenpflaster. Sie trugen andere Arbeitsjacken als die, die er schon gesehen hatte: Er erblickte Männer in bunten Beinkleidern, Frauen in fließenden Gewändern und Schleiern und einen Ritter in voller Rüstung.

 

Nur ein Grüppchen von Aufsehern in weißen Blazern, die mit Palm Pilots und Walkie-Talkies herumliefen, und ein Mann von der Wartung, der das Pflaster abspritzte, zerstörten die Illusion.

 

»Was halten Sie davon?«, fragte Amanda Freeman. »Es ist verblüffend«, erwiderte Warne ehrlich.

 

»Ja, das ist es.« Er drehte sich um und sah Amanda


 



Freeman lächeln. »Ich beobachte gern die Reaktion der Leute, die zum ersten Mal hier sind. Leider kann ich keine Zeitreise unternehmen, um es selbst noch einmal zu erleben. Da ist das Beobachten anderer besser als nichts.«

 

Sie gingen eine breite Durchgangsstraße entlang, und wenn es etwas zu sehen gab, wies Amanda Freeman ihn darauf hin. Als sie an einer Bäckerei vorbeikamen, ging ein quadratisches Fenster auf und ein unwiderstehlicher Duft drang heraus. Irgendwo stimmte ein Barde seine Laute und sang ein uraltes Lied.

 

»Die Konstruktionsphilosophie aller vier Welten ist identisch«, sagte Amanda Freeman. »Zuerst gehen die Besucher durch eine Kulissenlandschaft – im Fall Camelot ist es dieses Dorf –, die ihnen hilft, sich zu orientieren und in Stimmung zu kommen. Wir bezeichnen diese Phase als Dekompression.

 

Natürlich gibt es überall Restaurants, Geschäfte und Gewerbebetriebe, aber in erster Linie dienen alle Orte dazu, dass die Gäste sich umschauen und akklimatisieren können.

 

Dringt man tiefer in die jeweilige Welt vor, stößt man in der Umgebung allmählich auf die Attraktionen: Fahrgeschäfte, Theaterbühnen, holografische Darstellungen. Was Sie wollen. Alles geht nahtlos ineinander über.«

 

»Kann mal wohl sagen.« Warne bemerkte, dass – abgesehen von den Schildern, die auf Geschäfte und Restaurants hinwiesen – hier nirgendwo moderne Schriftzeichen existierten. Auf Toiletten und klug integrierte Auskunftsstände wiesen nur höchst realistische holografische Symbole hin.

 

»Wissenschaftler kommen hierher, weil die Straße, durch die wir gerade gehen, eine wunderbar detaillierte


 



Rekonstruktion Newbold Saucys ist, eines englischen Dorfes, das im vierzehnten Jahrhundert von den Bewohnern verlassen wurde«, sagte Amanda Freeman. »Die Besucher kommen hierher, weil der ›Drachenturm‹ möglicherweise die aufregendste Achterbahn dieses Parks ist – nach dem ›Kreischer‹ drüben in Boardwalk.«

 

Als sie den Dorfplatz erreichten, ragte die Burg finster vor ihnen auf. »Ein exakter Nachbau der walisischen Burg Caernarvon«, sagte Amanda Freeman. »Natürlich mit selektiver Kompression und erzwungener Perspektive.«

 

»Erzwungener Perspektive?«

 

»Die oberen Stockwerke entsprechen nicht der Wirklichkeit.

Sie sind kleiner. Sie rufen zwar die Illusion korrekter Proportionen hervor, sind aber gemütlicher und weniger einschüchternd. Wir setzen diese Technik in Utopia auf vielen Ebenen ein. Die Abmessungen des Berges dort sind zum Beispiel reduziert, damit er die Illusion von Ferne hervorruft.«

 

Sie deutete mit dem Kopf auf das hochgezogene Fallgitter.

»In dieser Burg wird außerdem das Stück ›Der verzauberte Prinz‹ aufgeführt.«

Das Lied des Barden war längst hinter ihnen verstummt. Nun drangen andere Geräusche an Warnes Ohren: Vogelgezwitscher, das Plätschern von Springbrunnen und das leise Geräusch, das er schon im Nexus vernommen hatte. »Was ist das für ein Geräusch, das ich ständig höre?«, fragte er.

 

Amanda Freeman maß ihn mit einem kurzen Blick. »Sie sind sehr hellhörig. Unsere Fachleute haben in der Mutterleibsforschung Pionierarbeit geleistet. Wenn sich Besucher in Camelot aufhalten, hört man das Geräusch


 



nicht mehr. Aber es ist trotzdem da.«

 

Warne schenkte ihr einen verdutzten Blick.

 

»Es geht um die Reproduktion bestimmter mutterleibähnlicher Effekte – Temperatur, Hintergrundgeräusche –, die auf subtile Weise das Gefühl von Ruhe und Frieden hervorrufen.

 

Wir haben fünf Patente angemeldet. Die Utopia Holding verwaltet inzwischen über dreihundert Patente, die wir an die chemische, medizinische und elektronische Industrie lizenzieren. Andere bleiben uns vorbehalten.«

 

Drei davon habe ich entwickelt, dachte Warne stumm und gestattete sich einen Anflug von Stolz. Ob die Frau überhaupt wusste, was er zum täglichen Gelingen Utopias beigetragen hatte? Er hatte das Metanet entwickelt, das die Aktivitäten und die Intelligenz der Parkroboter koordinierte. Doch Amanda Freemans Art, ihm die Gegend zu zeigen und mit ihm zu reden, als sei er irgendein Programmiererassistent, ließ vermuten, dass sie nichts davon wusste. Erneut fragte er sich, warum Sarah Boatwright ihn so plötzlich hierher bestellt hatte.

 

»Hier entlang«, sagte Amanda Freeman und bog in eine Seitengasse ab.

Ein Mann mit einem violetten Umhang und dunklen Kniehosen kam an ihnen vorbei und übte sich in Mittelenglisch. Vor ihnen waren zwei stämmige Wartungsarbeiter unterwegs, die einen großen Metallkäfig trugen. In ihm saß ein kleiner Drache. Sein Schweif zuckte, seine dunkelroten Schuppen schillerten in der Sonne. Warne schaute ihn an.

 

Die feuchten Nüstern des Drachen flammten auf, als Luft durch sie fuhr. Er hätte schwören können, dass die gelben Augen des Wesens aufleuchteten, als es den Blick auf ihn richtete.


 



»Ein Fabelwesen«, sagte Amanda Freeman. »Unterwegs zum ›Greifenturm‹. Der Park ist noch geschlossen, deswegen transportieren sie ihn nicht unterirdisch. Was ist denn, Dr. Warne?«

 

Warne starrte noch immer hinter dem Drachen her. »Nichts Besonderes«, murmelte er. »Ich bin nur nicht dran gewöhnt, diese Dinger mit Haut zu sehen.«

 

»Wie bitte? Ach ja! Es ist ja Ihr Spezialgebiet.«

 

Warne befeuchtete seine Lippen. Die Kostüme, der Dialekt, der beinharte Realismus der Umgebung … Er schüttelte langsam den Kopf.

 

»Ist ganz schön heftig, wenn keine Besucher da sind, die die Illusion zerstören, nicht wahr?« Amanda Freemans Stimme klang nun leiser und weniger forsch. »Lassen Sie mich mal raten. Als Sie hier angekommen sind, waren Sie der Meinung, dass der Nexus eher spartanisch aussieht – irgendwie trist.«

 

Warne nickte.

 

»Fast jeder, der zum ersten Mal nach Utopia kommt, hat am Anfang dieses Gefühl. Eine Besucherin hat mir mal erzählt, der Nexus sehe aus wie ein Milliardendollarflughafenterminal. Tja, er wurde bewusst so konstruiert.« Ihre Hand deutete auf die Umgebung. »Manchmal kann Realismus auf die Besucher desorientierend wirken. Deswegen sorgt der Nexus für eine neutrale Umgebung – als Übergang von einer Welt in eine andere.«

 

Sie wandte sich einem zwei Etagen hohen Fachwerkhaus zu und betätigte die eiserne Klinke der Eingangstür. Warne folgte ihr ins Innere. Zu seiner Überraschung war das Gebäude nur eine Hülse. Das Dach war offen. In der Rückwand befand sich eine einfache graue Tür, daneben erblickte er einen Fingerabdruck-Scanner und ein


 



Kartenlesegerät. Amanda Freeman blieb vor dem Scanner stehen und drückte den Daumen in die Vertiefung. Ein Klicken ertönte, dann sprang die Tür auf. Dahinter sah Warne den kühlen grünen Schein einer Leuchtstoffröhre.

 

»Wir sind wieder in der wirklichen Welt«, sagte Amanda Freeman. »Beziehungsweise sind wir ihr so nahe, wie man ihr hier kommen kann.«

 

Sie winkte ihn durch die Tür.


 



8.50 Uhr

 

Sarah Boatwright, die Chefin des Freizeitparks, saß zehn Meter unter dem Nexus in ihrem Büro an einem von Menschen wimmelnden Konferenztisch. Das Büro war kalt, denn die Hauptrohre der Klimaanlage verliefen hinter der Wand, vor der sie saß. Ihre Hände umfassten eine riesige Teetasse.

 

In Sachen Tee war Sarah Boatwright fanatisch. Einmal pro Stunde, pünktlich wie ein Uhrwerk, wurde ihr aus dem besten Restaurant von Gaslight eine Tasse der täglichen Empfehlung gebracht. Heute war es erstklassiger Jasmintee.

 

Sarah schaute zu, wie die runden jungen Blüten sich in der heißen Flüssigkeit entfalteten, und beugte sich kurz vor, um das Aroma zu inhalieren. Es war exquisit, exotisch, verlockend.

 

Laut Utopia-Zeit war es 0.10 Uhr, und die verschiedenen Parkabteilungsleiter hatten sich zur täglichen Vorshow in ihrem Büro versammelt. Sarah trank einen kleinen Schluck und spürte, dass die Wärme sich langsam in ihren Gliedern ausbreitete. Erst jetzt begann für sie der wirkliche Tag: Sie richtete sich nicht nach dem Wecker, der Dusche oder der ersten morgendlichen Tasse. Für sie fing alles erst an, wenn sie den täglichen Marschbefehl an ihre Mitarbeiter ausgab, wenn sie das Steuer des großartigsten Freizeitparks der Welt in die Hand nahm. Ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass für die Besucher jeder Tag gleich verlief – ungeachtet dessen, was täglich hinter den Kulissen passierte: ob zweitausend Pfadfinder hier herumtobten, ob es Unregelmäßigkeiten im Strom-versorgungsnetz gab oder ein Premierminister samt


 



Gefolge zu Besuch kam. Jeder Tag musste perfekt ablaufen.

Sie konnte sich keinen Beruf vorstellen, der von einem Menschen mehr verlangte und lohnender gewesen wäre.

Und doch war der heutige Tag trotz der üblichen Gefühle irgendwie anders. Sarah Boatwright empfand jedoch weniger Besorgnis, vielmehr neigte sie zur Vorsicht, denn Furcht, gleich welcher Art, hatte sie nie als nützlich empfunden.

 

Andrew ist hier, dachte sie. Er ist hier, aber er kann den wahren Grund der Einladung unmöglich kennen. Es war die erzwungene Doppelzüngigkeit, die sie vorsichtig machte. Sie spürte es sehr deutlich, als sie sich umschaute und die Gesichter im Geiste einschätzte. Forschung, Infrastruktur, Kasinobetrieb, Restauration, Medizin, Besucherbetreuung, Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle. Alle waren da. Bob Allocco, der Chef der Sicherheitsabteilung, saß massig wie eine Bulldogge und fast ebenso klein am anderen Ende des Tisches. Sein sonnenverbranntes Gesicht blickte teilnahmslos in die


Date: 2015-02-28; view: 484


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